Den Nahen Osten verstehen by Chris Giannou

Radio Lora, Nov. 2014

Als Chefarzt des Komitees vom Internationalen Roten Kreuz arbeitete Chris Giannou in vielen Kriegsgebieten dieser Welt. Seine Erfahrungen schilderte er in dem Buch “Besieged: A Doctor’s Story of Life an Death in Beirut”.Für seinen Einsatz wurde Chris Giannou mit dem Order of Canada ausgezeichnet. Am 4. April 2014 hielt er an der Universität von Denver, Colorado einen Vortrag dessen deutsche Kurzfassung Sie jetzt hören. 

Der Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation ist die Jahrtausende alte Geschichte Nordafrikas, des Nahen Ostens und Westasiens. Das Ende des 1. Weltkrieges vor 100 Jahren bedeutete auch das Ende der Herrschaft der Habsburger, der Hohenzollern, des russischen Zaren und des Osmanischen Reiches. 

Danach entstanden in den 1920 Jahren im Nahen Osten die ersten modernen Staaten: die Türkei Kemal Atatürks, Ibn Sauds Saudi Arabien und in Iran herrschte bereits seit 1906 eine höchst moderne liberale konstitutionelle Monarchie, während im Jemen eine mittelalterliche schiitische Monarchie an der Macht war. Der Rest der arabischen Welt stand unter kolonialem Mandat. Afghanistan war ein unabhängiger Pufferstaat zwischen Russland und dem Britischen Empire. 

Nach dem 1. Weltkrieg trat das von den Außenministern Englands und Frankreichs ausgehandelte Sykes Picot Abkommen in Kraft, mit dem die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches und die Balkanländer zerschlagen und der Nahe und Mittlere Osten unter das Mandat der britischen und französischen Regierung gestellt wurden. Die Balfour Deklaration erklärte Palästina zu einer “nationalen Heimstätte” des jüdischen Volkes, Tunesien, Algerien und Marokko wurden Teil des französischen Machtbereichs und Libyen nach der Eroberung durch Mussolini zu einer italienischen Kolonie. 

Auch wenn diese Staaten inzwischen mehr oder weniger unabhängig wurden, sind sie bis heute noch nicht in der Moderne angekommen. Ob in Afghanistan ein König, ein Republikaner, ein Marxist oder die NATO Truppen die Modernisierung vorantreiben wollen, die traditionelle Stammesgesellschaft ist dagegen. Denn beim Kampf der Mudschaheddin und der Taliban geht es nicht um den Islam, sondern um den Ehrenkodex der Paschtunen. In Saudi Arabien, einer anti- aufklärerischen Monarchie, wird die vermutlich konservativste Form des Islam praktiziert, dessen Einfluss dank der von den saudischen Wahhabiten finanzierten Schulen und Koranschulen in ganz Asien, Afrika und im Nahen Osten ständig wächst. 

Die Antwort auf das rigorose Vorgehen der Kolonialmächte waren die Gründung der Muslimbrüderschaft 1920 in Ägypten, die sich auch in Syrien bereits unter der französischer Herrschaft mit Baathisten und Kommunisten blutige Straßenkämpfe lieferte, und das Wiederaufleben der algerischen Ulema durch Ben Badis in den 1930er und 40er Jahren. Darüber hinaus strebte man ein säkulares, modernes Pan Arabien an, wie es später auch von Abdel Nasser und der Baath Partei vertreten wurde. 

Man erhoffte sich einen modernen, aber muslimischen Staat, genauso wie Japan nach dem 2. Weltkrieg bei aller Begeisterung für westliche Technologie ein Staat mit japanischer Kultur und japanischer Tradition geblieben ist und China ein sozialistischer Staat chinesischer Prägung. 

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Der Kalte Krieg war ausschlaggebend für das Entstehen höchst unterschiedlicher säkularer Strömungen. Obwohl die UdSSR in Ägypten Abdel Nasser und im Irak und in Syrien die Baath Partei unterstützte, wurden Kommunisten und Sozialisten mit Gefängnis bestraft und Anhänger der Muslimbrüderschaft gefoltert und hingerichtet. Als sich zwischen 1950 bis 1970 in Ägypten, Indien, Zypern, Jugoslawien und Indonesien die Idee eines arabischen Sozialismus und der Blockfreiheit durchsetzte, interpretierte der Westen jede antiimperialistische und antikolonialistische, nationale Bewegung als einseitig pro-sowjetisch und anti-westlich. Dabei wandte sich Nasser erst an die Sowjetunion, nachdem der Westen jegliche Hilfe beim Bau des Assuan Dammes abgelehnt hatte. So trieb der Kalte Krieg die fortschrittlichen, säkularen arabischen Muslime in die Arme der Sowjetunion. 

Nach den bitteren Kolonialerfahrungen ging man davon aus, dass nur Sozialisten gerecht seien und dass wirtschaftliche und politische Rechte und wirtschaftliche und politische Freiheiten selbstverständlich zusammengehören. Wer von rassistischen Kolonialherren als “Nigger”oder”Wog” beleidigt worden war, sehnte sich nach Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Der Suezkrieg von 1956 bedeutete für Ägypten zwar eine militärische Niederlage, aber auch einen politischen Erfolg. Denn danach war die 100 Jahre lange britische Militärherrschaft beendet. 

Ab 1967, nach dem für die arabischen Truppen verheerenden 6-Tage-Krieg, begann sich in Ägypten wie auch in Syrien das Ende der Modernisierungsbewegung abzuzeichnen.
Es entwickelten sich autokratische Regime zu reinen Militärdiktaturen und Militär- oder Parteidiktaturen zu Pfründen von Stämmen und Familien. Im Irak löste Saddam Husseins Tikrit Clan die Baath Partei ab, in Syrien die Brüder und Vettern Assads die Alawiten. Ähnliches erlebte Ägypten unter Mubarak und Tunesien unter Ben Ali. So wurde aus dem Traum eines arabischen Sozialismus Neoliberalismus. Die säkularen Ideen wurden zu Grabe getragen und wie früher unter der Herrschaft der Kolonialmächte nahmen die betrogenen Menschen erneut Zuflucht zu ihrer Religion. In Tunesien erstarkten die Anhänger der Ennahda-Partei, in Ägypten die Muslimbrüder und im Irak nahm unter den Schiiten der Einfluss Irans zu. Ursprünglich hatte sich in Syrien die gewaltlose Opposition gegen Assad aus Liberalen, Demokraten, Kommunisten, Sozialisten und syrischen Muslimbrüdern zusammengesetzt. Sobald jedoch die Muslimbrüderschaft die Oberhand gewann, militarisierte sie den Protest, bevor sie die Kontrolle an die die salafistische al-Nusra-Front oder die ISIS abgeben mussten. 

In den USA machte es keinen Unterschied, ob Staatsgrenzen willkürlich gezogen wurden oder nicht. Für die postkolonialen Staaten des Nahen Ostens dagegen ist es bis heute jedoch von allergrößter Bedeutung, denn dort wurden Jahrtausende alte Handelsrouten und eine Jahrtausende alte Geschichte sträflich missachtet. Der moderne Irak ist ein künstliches Gebilde, das die Briten aus drei Provinzen des Osmanischen Reiches willkürlich zusammensetzten. Der Libanon wurde von französischen Bürokraten aus einigen Städten und Bergen gebastelt. Das, was dabei übrigblieb, wurde zu Syrien. Als Ibn Saud die königlichen Familie aus Saudi Arabien vertrieb, setzten die Briten deren einen Sohn auf den irakischen Thron. Für den anderen trennten sie Petra mit seinen tausend Jahre alten nabatäischen und christlichen Kulturdenkmälern vom Irak ab und stampften Transjordanien, das spätere Jordanien, aus dem Boden. Da sich diese Staatengebilde auf keinerlei historische Legitimität stützen konnten, sammelten sie sich entweder unter dem Dach des Panarabismus oder dem des Islams. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete auch das Ende der Bewegung der Blockfreien Staaten, trotzdem setzten KGB, Stasi und westliche Geheimdienste ihre Ausbildung der ägyptischen, syrischen und irakischen Geheimpolizei fort. Daher ist es kein Wunder, dass man dort nach dem 11. September nicht nur wie bis dahin seine Märkte öffnete, sondern der CIA auch seine Folterdienste zur Verfügung stellen konnte. 

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Mit seiner Unterstützung der Saudis trug der Westen zum Scheitern der Modernisierung Ägyptens bei. Die westliche Unterstützung der Mudschaheddin wurde für Afghanistan zu einer Katastrophe. 

Als ich 1993 zum ersten Mal mit dem Internationalen Roten Kreuz nach Afghanistan kam, hatte sich eine afghanische, marxistische Militärärztin bereits erfolgreich gegen die Mudschaheddin behauptet und konnte später sogar unter den Taliban ein eigenes Krankenhaus für Frauen und Kinder einrichten. Und die NATO will uns erzählen, dass sie zum Schutz der Frauen in Afghanistan einmarschiert ist. Während es unter der Schreckensherrschaft der Taliban gelungen war, den Opiumanbau zu beenden, sah die NATO tatenlos zu, wie Afghanistan immer mehr zu einem Narcostaat wurde. Das ist nicht die Art von Modernisierung die sich Afghanistan oder die Staaten im Nahen Osten und in Afrika wünschen. 

Noch ist die Finanzkrise von 2008 nicht überstanden, die Arbeitslosenzahlen bleiben weiterhin hoch und die Produktion stagniert, nur die Aktienkurse stiegen und stiegen. Die Zeche bezahlen die Menschen im Nahen Osten, in Europa und Afrika. Auch in Israel kontrollieren inzwischen 20 bis 30 Familien fast die gesamte israelische Wirtschaft. So wird die Gesellschaft destabilisiert und es kommt zu Krisen und Revolutionen. In Ägypten wurde schon Jahre vor dem Sturz Mubaraks für bessere Arbeitsverhältnisse und gegen Korruption und Vetternwirtschaft gestreikt. Der Gemüseverkäufer Mohammed Bouazizi war nicht der erste Tunesier, der sich selbst verbrannte. Aber sein Tod hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Ben Ali entmachtet, ebenso wie die ständig steigende Zahl getöteter Oppositionellen das iranische Schah Regime zu Fall gebracht hatte. 

Der Bürgerkrieg in Syrien ist keineswegs ein Kampf von Alawiten gegen Sunniten, Christen und Jesiden, denn in der syrischen Gesellschaft zählt allein die regionale Herkunft und nicht die Religion. Zu den Unterstützern Assads gehören Christen, Sunniten und Alawiten. Sie alle versprechen sich davon wirtschaftliche Vorteile. Andere suchen Schutz vor den Kämpfern der Al Nusra Front. Am Ende wird das Land genauso wie der Libanon in einzelne Machtbereiche zerfallen. Doch Sykes Picot ist nicht nur in Syrien tot, auch der Irak steht vor einem Bürgerkrieg. Nicht von Sunniten gegen Schiiten, sondern von Sunniten gegen Sunniten, Schiiten gegen Schiiten, Arabern gegen Kurden, Kurden gegen Kurden. 

Die palästinensische PLO scheiterte an ihrem Unvermögen, staatliche Institutionen aufzubauen, an Korruption und Nepotismus und machte so den Weg frei für die Hamas, die anfangs sogar nach dem Motto “teile und herrsche” von Israel unterstützt wurde. Und so war nach Saddam Hussein, Osama bin Laden und den Assads ein weiteres unkontrollierbares Frankenstein-Monster in der Welt. 

Wie also sieht die Zukunft von Syrien, dem Irak, Jordanien, dem Libanon und Saudi Arabien aus? Wer von den heutigen 5000 saudischen Prinzen wird an die Macht kommen, wenn das Erbe nicht mehr von einem Bruder an den nächsten weitergereicht wird, sondern an Interessenvertreter von Ölgesellschaften, dem Pentagon, von Mercedes und Coca Cola?

Vor 30 Jahren hatten die Menschen gehofft, dass ihnen eine Modernisierung soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit bringen würde. Heute erwarten sie das vom Islam. Doch weder sie noch ihre Kritiker sollten vergessen, dass der Weg des Westens in Richtung Rechtsstaat und Trennung von Staat und Religion mehrerer Jahrhunderte, einer Renaissance und einer Aufklärung bedurfte. 

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